Hippopotomonstrosesquippedaliophobie, die: die Angst vor langen Wörtern Hippopotomonstrosesquippedaliophobie – Die Angst vor langen Wörtern. Ich hatte mehr Angst vor kurzen Wörtern: "Liebe" zum beispiel, oder "Zeit". "Angst" und "Fehler" waren auch nette Gesellen. Ich hatte Angst, dass alles so blieb wie es war, und gleichzeitig hatte ich Angst vor Veränderung. Keine Lösung war die richtige. Ach was, es gab gar keine Lösung. Die Situation schien aussichtslos und dabei halfen auch meine Mutter, meine beste Freundin und der Pfarrer nicht, die mir allesamt sagten ich solle auf mein Herz hören, auf den Himmel hören, es würde schon alles gut werden.
Der Regen trommelte gegen mein Fenster wie der Schmerz gegen meine Schläfe. Es war spät. Es war kalt. Ich hatte noch immer keine Antwort. Ich knabberte auf überreifen Mandarinen und für den November frühreifen Lebkuchen herum. Schon wieder blinkte mein Handy auf. Ich hatte bereits drei Anrufe ignoriert und zwei abgelehnt. Unwiderruflich stand ich davor, mit jeder der Möglichkeiten den größten Fehler meines Lebens zu machen. Nichts, wie man es hätte richtig machen können. Ich musste die Entscheidung treffen, was wohl das kleinere Übel wäre. Nun, eigentlich hatte ich mich schon entschieden und diese Entscheidung brach mir das Herz. Sie würde nur aus einem einzigen kurzen Wort bestehen. So, nun war es so weit. Ich würde die Frau meines Herzens bitten, den Rest ihres Lebens mit mir zu verbringen. Alles war genau durchgeplant. Eine Viertelstunde zu spät, um 18:45 würde ich bei ihr eintreffen. Dann würden wir uns "zufällig" auf dem Weg zum Restaurant verfahren, all unser Lieblingsessen wäre ausverkauft und im Champagner wäre kein Ring. Sobald sie am Verzweifeln und den Tränen nahe wäre, würde ein Drei-Gänge-Menü mit Wunderkerzen darauf vom Chefkoch höchstpersönlich hereingetragen. Ich würde mich vor ihr hinknien,.... Ja. Ich freute mich sehr über diesen überaus gelungenen Plan, und bei der Vorstellung ihrer traurigen Augen, die sich plötzlich aufhellen würden. Nun hatte ich schon fünf Mal versucht sie anzurufen um den Termin, 18:30 morgen, abzuklären. Ob ich sie damit nervte? Sie war ja eher eine spontane Person. Vielleicht hatte sie auch keinen Empfang, oder einen wichtigen Termin? Ob ich bei ihr vorbei fahren sollte? Vielleicht lieber nicht. Das würde den dramatischen Effekt noch verstärken. Nun ärgerte ich mich über mich selbst, dass ich sie überhaupt angerufen hatte. Jetzt sendete ich ihr schon widerspüchliche Signale... Ich schickte ihr stattdessen eine kurze SMS: "Morgen, 18:30 bei dir". Ich lächelte über der Vorstellung wie glücklich sie morgen wäre wenn sie erfahren würde, dass das alles zum Plan gehört hatte. Ihr glückliches Gesicht, wenn ich vor ihr knien würde, das Lächeln, das um Ihren Mund spielen würde, wenn sie eigentlich schon wusste was ich wollte, aber sich zwang nicht "Ja" zu sagen, bevor ich die Frage gestellt hatte. Draußen stürmte es. Meine alten Holzfenster klapperten. Vielleicht sollte ich mal neue einsetzen lassen? Aber das wäre über den Winter vermutlich eher kontraproduktiv. Dicke Regentropfen und nasse Blätter wischten über die Glasscheiben. Ob sie gerade dort draußen war? Bei einem geschäftlichen Terminund sich wünschte, hier bei mir zu sein? Oder saß sie gemütlich auf dem Sofa und sah sich Liebesfilme an? Aber dann würde sie wohl ans Telefon gehen. Nein, wahrscheinlich rannte sie mit klitschnassen Haaren einem Bus hinterher oder hatte sich unter einem schmalen Vordach untergestellt. Ich wünschte mich zu ihr, wünschte, ich könnte sie mit meinen Armen wärmen und ihr versprechen, das den Rest unseres Lebens zu tun. Damit war ich wieder bei meinem Plan für morgen und ich bedachte die samtene Schatulle auf meinem Nachtisch mit einem freudigen Blick, die mich mehr als ein Monatsgehalt gekostet hatte. Sie stand dort so wunderbar klischeehaft, romantisch, wie in jedem Film in dem ein präverlobter, augeregter Mann auf irgendwie verdrehte Weise den Ring im Magen eines Hundes oder in einem See verliert. Ich sah vorsichtshalber nocheinmal hinein, um sicherzugehen. Eine halbe Stunde später lag ich eingekuschelt in den Federkissen in meinem Bett. Kurz bevor ich einschlief schickte ich noch ein Gebet für meine Fast-Verlobte gen Himmel, die in meiner Vostellung noch immer vollkommen durchnässt unter einem Bushaltestellenhäußchen stand. Es war schon 18:35. Er war zu spät! Eigentlich war er immer pünktlich. Vielleicht hatte er doch nicht vor zu fragen? Eine kurze Welle der Erleichterung überkam mich, die aber sofort wieder verflog. Wahrscheinlich stand er nur im Stau, oder noch schlimmer, das gehörte zu einem klischeemäßig-kitschigen Plan den er ausgeheckt hatte, das würde ihm ähnlich sehen. Diese Warterei machte mich noch verrückt. Müde wollte ich mir durch die Augen reiben. Stop! Wimperntusche. Hatte ich vergessen. Ich hatte diese Nacht kaum geschlafen und mir um vier Uhr morgens schließlich über meinen Grübeleien einen starken Kaffe gemacht. Seit zwei Stunden nun saß ich mit Hut und Mantel und zu meinem Leidwesen auch Wimperntusche angezogen auf dem Sofa, ausgehfertig. Jetzt kam dieser Mann auch noch zu spät! Vielleicht wollte er auch nur ein Drama aus seinem Auftritt machen, das wäre genau seine Art. Dafür liebte ich ihn, und hasste mich für diesen Gedanken. 18:40. Hippopotomonstrosesquippedaliophobie. Das war nun zu meinem Leitspruch oder -wort geworden in diesem Dilemma. Aufgeschnappt hatte ich das Wort bei meiner besten Freundin, bei deren Cousine das diagnostiziert wurde. Erst ein Mal hatte ich sie gesehen, sie war wirklich etwas seltsam und hatte alle möglichen Ängste. Jedenfalls hatte ich mir vorgenommen, so wenig und so kurze Wörter wie möglich zu verwenden. Dann würden unsere beider Herzen vielleicht nicht ganz so lange Schmerzen – wie bei einem Pflaster, das man schnell abreist. Oh mein Gott, jetzt benutzte ich auch schon solch klischeebehaftete Bilder. Eigentlich war er doch der emotionale Teil unserer Beziehung. Wahrscheinlich hatte ich das von ihm. Warum musste es nur gerade jetzt sein? Es war alles zu kompliziert! Meine beste Freundin, die Arbeit, mein Vater... Mir schossen Bilder durch den Kopf von früher, als noch alles gut war. Wir beide in der Uni, wo wir uns kennenlernten und auf Anhieb gut verstanden. Im Spätherbst im Zoo, weil da die Preise niedriger waren. An unserem ersten gemeinsamen Weihnachten das Kekse-Backen, bei dem mehr Mehl auf unseren Schürzen als im Teig landete. Wir beide auf seiner winzigen Couch vor dem Kamin während die Fenster klapperten. Am liebsten würde ich ihm das alles sagen, wie sehr ich die Zeit mit ihm genossen hatte und dass ich nicht wollte, dass das alles endete und dass es mich zerstörte zu wissen, dass diese Zeit bald zuen... Hippopotomonstrosesquippedaliophobie. Keine langen Worte oder Sätze. Je mehr wir redeten, desto größer war die Gefahr, dass ich doch einknicken würde. Weniger Worte – weniger Schmerzen. 18:45. Wo blieb er denn? Ich dachte an die Cousine meiner besten Freundin und fragte mich, wie man Angst vor langen Wörtern haben konnte. Angst wovor, dass sie einen auffraßen? Ich ärgerte mich über eine solche Banalität, wo es doch Menschen mit größeren Problemen gab. Ich fragte mich, ob ich es wirklich fertig bringen würde, ihn später so stehen zu lassen. Ihn mit einem kurzen Wort abzuspeisen und dann wegzulaufen. Es klingelte an der Tür. JETZT NUR KEINE LANGEN REDEN SCHWINGEN. NICHT HEULEN. Hippopotomonstrosesquippedaliophobie. Es hat alles wunderbar funktioniert. Ich habe sie sogar 20 Minuten zu spät abgeholt, wir haben uns nicht nur verfahren, sondern sogar im Stau gestanden und nun warten wir vergeblch auf eine mikrige Backkartoffel, weil alles andere "ausverkauft ist". Wunderbar. Nun sitzen wir im Restaurant. Sie sieht schon recht genervt aus, vielleicht auch enttäuscht oder besorgt, macht sie sich Sorgen ich wäre traurig, weil ich mir eigentlich so einen schönen Abend überlegt habe? Noch besser! Sie hat heute noch nicht viel gesprochen. Im Auto haben wir uns über die Woche ausgetauscht und über das Wetter, ganz zwanglos, und dann über den Stau aufgeregt. Ich will auch jetzt nicht zu viel reden aus Angst, zu viel zu sagen. Mich zu verplappern. Wann kommt denn endlich dieser Koch? Als hätte er meine meine Gedanken gehört, kommt er im nächsten Moment um die Ecke. Wie auf Bestellung, wahrscheinlich hat das Restaurant die übrigen Gäste vorbereitet, stehen die Leute an den anderen Tischen auf. Jetzt ist mein Moment. Nur. Keine. Panik. Mit zitternden Händen und einem breiten Lächeln knie ich mich vor sie hin. Sie sieht etwas neugierig und immernoch etwas besorgt aus. Ohne lange Vorrede stelle ich ihr die Frage. Nur nicht zu viel reden, einfach machen. "Meine Geliebte. Möchtest du nach all der Zeit dein Leben mit mir verbringen, jede Sekunde teilen, kurzum, willst du mich heiraten?" Dabei ziehe ich die Schatulle aus der Jackentasche. Sie schluckt. Habe ich sie zu Tränen gerührt? "Weißt Du, hast du schon mal etwas von der Angst vor langen Wörtern gehört?...
3 Kommentare
Michael Wendler
7/1/2016 01:07:20 am
Sexistisch, dass der Mann sich hinkniet und nicht die Frau bzw. beide sich gegenüber AUF AUGENHÖHE stehen!!
Antwort
Keks
7/1/2016 01:50:05 am
Ich finde diese Geschichte sehr gut geschrieben und spannend. Die Situation konnte ich mir sehr gut im Kopf vorstellen, vor allem an den Stellen, wo er sich sein Date vorstellt, oder sie an ihre Cousine denkt.
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